Feuerwerk: Warum Böllern nicht nur schlecht ist

Published 1 hour ago
Source: stern.de
Feuerwerk: Warum Böllern nicht nur schlecht ist

Die meisten Menschen sind fasziniert von Böllern und Raketen, selbst viele Pyroverweigerer. Und das liegt nicht nur an den schönen Farben. Wie Psychologen das Phänomen erklären.

Der Countdown läuft. Es funkelt und knistert, während die Zündschnur abbrennt, dann plötzlich ein lautes Fauchen, und die Rakete rast nach oben, mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit und Wucht, als gäbe es keine Erdanziehungskraft. Bis sie schließlich weit oben explodiert und ein helles Bild aus funkenden Sternen in den Nachthimmel malt. Das war aufregend. Das hatte Kraft. Ein tolles Gefühl.

Klar, viele andere Menschen sehen das anders. Das Feuerwerk an Silvester ist längst nicht mehr nur umstritten, sondern wird in vielen Kreisen sogar vehement abgelehnt. Einer aktuellen YouGov-Umfrage zufolge wollen 63 Prozent der Deutschen an Silvester keine Raketen und Böller zünden. Und doch – auch wenn sich das in Umfragen nicht gut erheben lässt – dürften selbst viele der Gegner von Raketen am Himmel zumindest manchmal ein Stück weit fasziniert sein. Die elfjährigen Zwillinge des Autors etwa sind vehemente Gegner von Raketen und Böllern, seit sie vor zwei Jahren das erste Mal gesehen haben, wie die beiden Katzen zu Hause sich über Stunden in die hinterste Ecke verkrochen haben. Doch wenn es dann Mitternacht ist und auf der Straße von den Nachbarn das Feuerwerk gestartet wird, dann gehen die beiden näher ran und verfolgen genau jede hochgeschossene Rakete. Sie können und wollen sich nicht abwenden.

Böllern – die Faszination des Feuerwerks

Die Faszination fürs Feuerwerk ist eben doch weitverbreitet – und dafür gibt es eine Reihe guter psychologischer und soziologischer Erklärungen. Da ist zunächst etwas Archaisches, das manche von uns anspricht: "Die Raketen und Böller, die schon durch ihre Wucht und auch Zerstörungskraft ein Stück weit als gefährlich gelten, lassen manche Menschen ihre Wildheit wieder spüren. Und das gefällt ihnen offenbar", sagt der Soziologe Sacha Szabo aus Freiburg.

Deshalb macht es laut Szabo auch einen großen Unterschied, ob man die Rakete oder den Böller selbst zündet – oder ob man einfach nur zuschaut. Zweifelsohne haben die orchestrierten Show-Feuerwerke, etwa über dem Brandenburger Tor oder der Oper von Sydney, ihren Charme. Aber die meisten suchen doch etwas anderes: die unmittelbare Nähe zu der Urkraft, die mit Böllern und Raketen verbunden wird. "Die Menschen wollen wenigstens einen Hauch der besagten Gefährlichkeit am eigenen Körper spüren. Für manche sonst im Alltag vorsichtige Menschen kann das Zünden der Raketen so zu einer Art Mutprobe werden, die durch den Nervenkitzel die Faszination noch steigert", sagt Szabo.  

Man spürt sich wieder selbst, kann wenigstens einmal kurz loslassen. Das ist verheißungsvoll für viele – gerade weil der Alltag heute meist sehr verantwortungsvoll betrachtet und gelebt wird. "Es wird gespart, es wird auf die Umwelt und Nachhaltigkeit geachtet. Silvester gilt als der eine Tag des Jahres, wo jeder sich einmal gewissermaßen gehen lassen kann", so Szabo. Eine Verschwendungssucht, die auch schon der französische König Ludwig XIV. zeigte, der bei aufwendigen Feuerwerken Wohlstand in Rauch aufgehen ließ und seinen Machtanspruch unterstrich. An Silvester kann mittlerweile jeder einmal im Jahr eine große Verschwendung ausleben. Als wäre die Zeit stehen geblieben.

Feuerwerk ist aber auch ein tief verankertes Ritual. Psychologisch betrachtet erfüllen all diese Traditionen eine wichtige Funktion: Sie geben Halt, markieren Übergänge und schaffen das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Selbst Menschen, die Feuerwerk kritisch sehen oder aus ökologischen Gründen ablehnen, spüren oft zumindest den Sog des Gewohnten. Silvester ohne Knallen – für viele wäre das, als würde ein wichtiger Refrain aus einem Lied herausfallen. Denn wer das Knallen hört und die Raketen am Himmel sieht, weiß auch: Ich teile hier ein Erlebnis mit anderen, für einen kurzen Moment ist die Aufmerksamkeit aller gemeinsam auf etwas gerichtet. Rituale strukturieren die Zeit, und sie verbinden uns mit den Menschen, mit denen wir sie teilen. Vielleicht ist das Zünden einer Rakete deshalb weniger ein individueller Akt als vielmehr ein kollektives Nicken – "Wir haben es geschafft. Wir gehen weiter."  

Geschafft, weitergehen – das trägt auch eine Symbolik des Neuanfangs in sich. Zum Jahreswechsel halten viele Menschen zumindest kurz inne und machen sich bewusst, dass die Zeit nicht einfach weiterläuft – sondern in Kapitel unterteilt ist. Psychologisch betrachtet kann dies ein hoch aufgeladener Moment sein: ein Schnitt, ein Reset – ein altes Kapitel endet, ein neues Kapitel beginnt. Feuerwerk verstärkt dieses Gefühl, weil es das Alte buchstäblich in Rauch aufgehen lässt. Ein Knall, ein Lichtstoß, ein kurzer Schauer – und man hat zumindest für einen Moment das Gefühl, dass alles, was vor wenigen Sekunden noch schwer wirkte, jetzt leichter geworden ist. Feuerwerk ist damit auch eine Art Selbstvergewisserung: Wir können neu anfangen. Wir dürfen neu anfangen. 

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