An Weihnachten zieht es uns alle wie magisch nach Hause. Aber was ist das eigentlich, dieses "zu Hause"? Ein Ort oder ein Gefühl? Unsere Autorin macht sich auf die Suche.
Ich lebe seit fast 30 Jahren in Hamburg, trotzdem hat keine meiner Wohnungen in dieser Stadt – es müssten acht oder neun gewesen sein – jemals einen Tannenbaum gesehen. Oder Geschenke oder ein Weihnachts-Fondue. Oder quietschend gespielte Lieder auf der Blockflöte gehört oder eine Stimme, die vorliest: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde …"
Das alles passiert nicht bei mir, auch nicht in der derzeitigen Wohnung, wo meine Kinder groß werden. An Weihnachten sind wir nämlich niemals hier – sondern zu Hause. Finden Sie das seltsam? Ich auch.
Drängende Frage an Weihnachten: Wo ist "Home for Christmas"?
Wo ist zu Hause? An Weihnachten zieht es uns alle wie magisch dorthin, so wie Chris Rea, der im Dezember 1978 in einem Londoner Stau stand und seine Gedanken zum Ohrwurm verdichtete, "Driving home for Christmas". Oder so wie Lachse, denke ich, die den Geruch ihres Heimatflusses erkennen und anhand des Erd-Magnetfelds dorthin zurückfinden, auch wenn es 6000 Kilometer sind.
Der Magnetismus des Zuhauses entsteht in der Kindheit, sagt die Zwickauer Psychologin Beate Mitzscherlich. Sie hat Menschen nach ihrem Zuhause-Gefühl befragt. Viele beschreiben es so: wenn das Selbst und die Umgebung übereinstimmen. "Es wurden auch häufig Sinnesreize erwähnt, die mit biografischen Erfahrungen verknüpft sind", erklärt Mitzscherlich, "Heugeruch wie auf Opas Bauernhof, der Geschmack von Kürbissuppe mit Muskatnuss. Positive Erfahrungen aus der Kindheit bleiben später an das Gefühl Vertrautheit gekoppelt."
Klar, dass sich so ein Gefühl nicht einfach in einen Umzugskarton stecken lässt und freiwillig wegzieht. Meins jedenfalls scheint stur angewachsen zu sein in der westfälischen Kleinstadt, aus der ich komme und wo meine Eltern immer noch leben. Das Gleiche gilt für meinen Mann: Zu Hause ist ein Resthof in der normannischen Pampa, wo unsere Kinder mit seinem Lego aus den 1970ern spielen (übrigens tipptopp, dieses 50 Jahre alte Lego). Und so feiern wir mal da oder da Weihnachten, jedenfalls nie dort, wo wir die meiste Zeit des Jahres sind, wo wir arbeiten und Miete zahlen.
Apropos Miete: Im Freundeskreis beobachte ich die Tendenz, dass Immobilienbesitz und Weihnachtsbaumkauf zusammenhängen. Ziehen sie endlich ins ersehnte Eigenheim, kaufen sie auch einen Baum und feiern fortan an der Adresse, wo der Kredit läuft. Liegt es also daran, dass mein Zuhause-Gefühl seit Jahrzehnten nicht umziehen will? "Home for Christmas", aber nicht für Mieter?
Doch, doch, sagt mein besonnener Kollege Tobias Schmitz. Das mit dem Eigenheim hat er hinter sich, es war eine schmerzhafte Entscheidung. Seinen Text lese ich immer dann, wenn mich die Immobilienpreise fertigmachen oder wenn ich jetzt, vor Weihnachten, Trost suche, weil ich meinen Kindern wohl kein Zuhause hinterlassen werde. Jedenfalls keins, wo das Weihnachtsgefühl eingezogen ist.
In der Nacht nach der Rückabwicklung seines Hauskaufs, schreibt Tobias, lag er wach und dachte: "Was für ein absurdes Jahr! Da ertönt von der Elbe her: das Tuten eines Schiffes. Wie habe ich dieses Geräusch vermisst. Ich spüre wieder meinen Puls. Er geht ruhig und gleichmäßig. Nein, es ist nicht absurd, denke ich. So läuft das Leben manchmal. Du hattest ein Haus. Jetzt bist du wieder: zu Hause."
Es ist wohl so: Zu Hause ist kein Ort, jedenfalls nicht nur – zu Hause sind vor allem Erinnerungen, Rituale, alter Kram, bekannte Wege, vertraute Menschen. Ein emotionales Basislager. Und das kann überall stehen.
