Meinung: Ein Plädoyer für die klassische Familienfeier

Published 1 hour ago
Source: stern.de
Meinung: Ein Plädoyer für die klassische Familienfeier

Seit einigen Jahren bleiben bei uns weiße Tischdecken und das gute Porzellan im Schrank. Gefeiert wird "ganz entspannt" auf dem Sofa. Schick macht sich auch keiner mehr. Schade eigentlich.

Jetzt, wo Weihnachten näher rückt, höre ich immer wieder aus allen Richtungen die teils genervten, teils amüsierten Berichte über die alljährlichen Familienfeiern: zu viel Essen; Familienkonflikte, Kirchgänge, die man eigentlich nicht fühlt, Geschenkestress. Oft klingt es, als gäbe es das Klischee solcher traditionellen Familienfeiern noch, zumindest in unserer Vorstellung, unserem kulturellen Gedächtnis. Aber existieren sie wirklich noch in dieser Form?

Meine ganze Kindheit und frühe Jugend hindurch gab es sie bei uns zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Konfirmationen, Hochzeiten. Wenn es in unserer Familie so weit war, wurden mehrere große Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt und mit blitzweißen Tischdecken bedeckt. 

Meine Mutter holte die guten Kerzenleuchter raus, das gute Porzellan, und wir durften sie zwei Tage lang nicht ansprechen, weil sie in der Küche damit beschäftigt war, eine Torte nach der anderen zu backen oder den Braten vorzubereiten – samt Rotkohl und Kroketten. Wir Kinder wurden in unsere besten Kleidchen und kratzigen Wollstrumpfhosen gesteckt und "adrett" zurechtgebürstet. Auch die Verwandtschaft warf sich in Schale und duftete geschlossen nach Kölnisch Wasser.

Man sieht die Verwandten mal wieder

Und ja, natürlich ist das anstrengend. Besonders für denjenigen, der alles vorbereiten muss (Grüße gehen raus an meine Mutter). Aber eigentlich, und damit stehe ich womöglich allein da, bin ich ein großer Fan von Familienfeiern. Sie sind eine kurze Unterbrechung des immer gleichen Alltags. Man hat einen Grund, sich ein bisschen schick zu machen, sieht auf einen Schlag seine ganze Familie wieder und kann sich auf den neuesten Stand bringen. Vielleicht habe ich aber auch ungewöhnlich viel Glück damit, dass ich meine Familie gern mag.

Seit jedoch leider in den letzten zehn Jahren die Generation meiner Großeltern nach und nach verstorben ist, bleiben die weißen Tischdecken und Kerzenleuchter im Schrank. Geburtstage feiern inzwischen die meisten meiner Verwandten allein. Es scheint, als wären die Feiern eigentlich nur für die älteren Verwandten veranstaltet worden, weil diese das so erwarteten. 

Jetzt, wo diese Instanz fehlt, hat sich die Tradition der klassischen Familienfeier, zumindest bei uns, quasi aufgelöst. Natürlich kann man diese Entwicklung wie eine Befreiung verstanden – wir können ja jetzt ganz entspannt zusammenkommen. Keine kratzigen Strumpfhosen mehr, kein Rotkohl und kein Stress. Aber damit geht auch die Feierlichkeit ein Stück weit verloren.

Denn formlos und entspannt können wir doch jeden Tag zusammenkommen, oder? Und seit die Verbindlichkeit, die konkreten Einladungen und das traditionelle Familienfeierprogramm fehlen, bleibt es bei Geburtstagen innerhalb der Verwandtschaft oft bei einem Anruf oder einer kurzen Stippvisite zum Kaffee. Ist das wirklich besser? 

Mit Teilen meiner Verwandtschaft habe ich seit Monaten und Jahren nicht ausführlich gesprochen, weil ich in einer weiter entfernten Stadt arbeite und es meist nur zu besonderen Anlässen "nach Hause" schaffe. Feiern wären schöne Gelegenheiten, mal wieder alle zu sehen. Die fallen aber immer öfter weg. Ich finde das schade.

Schätzt euch, trefft euch, bleibt euch nah

Die logische Konsequenz wäre, selbst den Backofen anzuschmeißen und alle einzuladen. Aber dann müssten an die 15 Menschen über 200 Kilometer anreisen. Und ich muss zugeben, dass ich weder weiße Tischdecken noch Kerzenleuchter besitze. Noch den Platz für eine lange Tafel. Vielleicht ist es also auch das moderne Leben, dass sich der klassischen Familienfeier in den Weg stellt?

Trotzdem: Wenn es nicht wirklich gute Gründe gibt, sich von der eigenen Familie fernzuhalten (und die gibt es für manche Menschen bestimmt), plädiere ich dafür, sich vielleicht mal wieder öfter diese Wertschätzung zu gönnen. Macht euch schick für eure Lieben, macht euch Mühe, nehmt euch Zeit, bleibt euch nah. Backt Torten, esst Torten, schreibt Einladungen auf Papier. Stresst euch, ärgert euch, freut euch.

Dieser Text wurde erstmals 2018 auf stern.de publiziert.

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